The hall under the river/ Der Saal unter dem Fluss

Als mich der junge Filmemacher und Kameramann Johannes Pfau zum ersten Mal kontaktierte – das muss wohl etwas mehr als zehn Jahre her sein – hatte ich gerade meinen ersten Kurzgeschichtenband „Die Irritation“ veröffentlicht. Johannes war damals in der Ausbildung beim Bayerischen Rundfunk und fragte mich, ob er die Titelgeschichte des Buches verfilmen dürfe.

Natürlich war ich hellauf begeistert, auch, weil ich 2015 bei einem der Drehtage mit am Set sein durfte. Mein Bericht von damals und einige Szenenfotos sind HIER nachzulesen und zu sehen.

Inzwischen hat sich Johannes zusammen mit seiner Regiekollegin Melissa Budweg Duarte noch eine weitere meiner Geschichten als literarische Vorlage für einen Film vorgenommen, nämlich „Der Saal unter dem Fluss“:

Sie wusch ihnen die Gesichter und trug Make-up auf, mehrere Lagen, wo es die Blutergüsse notwendig machten. Obwohl man ihr gesagt hatte, dass es nicht nötig sei, ordnete sie ihnen die Kleider, faltete Hände und band Schnürsenkel, die sich im Kampf gelöst hatten.“

Beim Berlin Independent Film Festival, das im Rahmenprogramm der Berlinale läuft, wurde der Film „The hall under the river/Der Saal unter dem Fluss“ nun vor wenigen Tagen mit dem Preis Best Sci-Fi Short ausgezeichnet. Meine Gratulation geht an Johannes, Melissa, die Hauptdarstellerin Sarah Siri Lee König und das gesamte Filmteam. Ich freue mich riesig mit euch und bin sehr stolz, dass meine kleine Geschichte euch zu einem so großartigen Film inspiriert hat.

Mehr über Johannes´ vielfältige Arbeit finden Sie HIER. Mehr zum Film unter https://johannespfau.de/dersaalunterdemfluss/ Weitere Details zur Crew und Besetzung unter https://www.crew-united.com/de/Der-Saal-unter-dem-Fluss__257304.html

Seascape – vom Schreiben am Klippenrand

Irgendwann im Oktober, kurz vor meinem Aufbruch zu dieser Reise, erschien sie mir auf einmal als ein größenwahnsinniges, unmögliches Vorhaben. Es galt durch so viele brennende Ringe zu springen, selbst nach der erfolgreichen Bewerbung für einen der unter Künstlern, Filmemachern, Komponisten und Schriftstellern so begehrten Aufenthalte im Böll Cottage auf Achill Island. Alles schien angesichts meiner Erschöpfung plötzlich zu groß, zu schwer, zu weit: eine emotionale und schriftstellerische Überforderung schien sich anzubahnen, wahrscheinlich sogar ein grandios-dramatisches Scheitern oder, womöglich, ganz und gar klägliches Aufgeben.

Tatsächlich hatte ich mir zusammen mit meinem alten Mini einiges vorgenommen, weit mehr als die besungenen 900 Meilen – nämlich 2500 – umgerechnet rund 4000 Kilometer. Unterwegs schwächelten wir zuweilen, mein Mini und ich, mal waren es Öl und Batterie, mal Einsamkeit und Selbstzweifel.

Groß und dramatisch war dann an dieser Reise einiges, aber nicht das Scheitern. Wir haben durchgehalten, der Mini und ich. Überwältigend waren sie beide, die Landschaften nah der stürmischen, winterlichen See, wenn auch so grundverschieden: Das vertraute und doch so geheimnisvolle Devon – voller Geschichten und Gedichte, voller Gespräche mit klugen Freunden, aber auch nächtlicher Irrfahrten in überfluteten, von uralten Hecken gesäumten Sträßchen. Und dann die wilde und wintereinsame Insel Achill im irischen Westen, der Sehnsuchtsort Heinrich Bölls. Hier hat sich dann auf seltsame Weise etwas in mir verschoben, wie sich die Fracht auf einem Boot in stürmischer See verschiebt und einen neuen Schwerpunkt findet. Hier füllten sich meine Notizbücher. Neue Texte entstanden, die mir jetzt ebenso unbezähmbar und unergründlich vorkommen wie die Insel selbst. Selbst zum Zeichnen und Malen bin ich hier nach langen Jahren zaghaft zurückgekehrt – wenn der Sturm nach einem langen Tag die Worte fortgeblasen hatte und es doch noch vieles zu sagen gab. Unbestreitbare Unbeholfenheit und die Angst vor dem Scheitern, all das muss keine Rolle mehr spielen unter jenen großen Himmeln, am Rand der ins Bodenlose abfallenden Klippen, unter dem Blick des purpurfarbenen Mount Slievemore, über den die Wolkenschatten fliegen. Denn wer sich klein und unbedeutend fühlt wie nie, der ist auch seltsam frei.

achill island, november 2023

My thanks to John McHue, John Smith, the Heinrich Boell Foundation, County Mayo and the Arts Council of Ireland. Thank you for letting me stay in this place of wonder and beauty for a little while.

I also want to thank my friends in Devon. Alan, for his generous hospitality, Moira, Owen & Lucie for cake and company and especially Matt Bryden, for his friendship, support and appreciation in difficult times.

Was, verdammt, ist denn jetzt ´Pataphysik?

Einige unerhörte und unerwartete Veröffentlichungen

Manche Jahre sind besonders. Voller spezieller Erfahrungen. Der ganz neuen – grauenhaften wie wundersamen Art. Der steilen Höhen und Tiefen. Ebenso grell wie finster, schwindelerregend, kräftezehrend. Raus aus der Komfortzone, hinein ins Unbekannte. Wir hatten nun alle ein paar solcher Jahre. Wie viele hatte ich gehofft, 2023 würde ein etwas gewöhnlicheres Jahr werden, etwas langweilig, dafür aber auch etwas entspannter. Pustekuchen.

Das Gute daran ist: Auch in Sachen Veröffentlichungen haben sich Überraschungen ergeben. Was Pataphysik ist, ja, auch darauf komme ich noch, versprochen.

Die Hoffnung auf die Veröffentlichung meiner beiden Short Stories im an der Pennsylvania State University herausgegebenen Trafika Europe Literaturmagazin hatte ich trotz unterschriebenem Vertrag beinahe schon aufgegeben. Meine Freundin und Literaturübersetzerin Ruth Martin hatte die Texte dort eingereicht, wohin ich mich nie vorgewagt hätte, denn nach eigenem Bekunden veröffentlicht das vierteljährlich erscheinende Onlinemagazin nur „die beste Literatur Europas“ in englischer Übersetzung. Meine Vorfreude auf das Erscheinen von „The Island“ (als Erstveröffentlichung) und „The silver moth“ war daher groß. Doch dann geschah lange nichts. Erst ein Jahr später, im August 2023, erfuhr die Öffentlichkeit den Grund für den Stillstand. Auf der Seite von Trafika Europe wurde der Tod Andrew Singers, des Gründers und der Seele des Projekts, nach schwerer Krankheit bekannt gegeben. Erst im Spätsommer erschien dann eine Doppelausgabe des Magazins, das HIER zu durchblättern und zu lesen ist (und die meine beiden Texte dann doch noch enthält.)

Aus: The Island

Meine Story „Nicht-Sommer“, die ich zur Ausschreibung „Scooter“ des österreichischen Literaturmagazins DUM (Das ultimative Magazin) eingereicht hatte, hielt ich ebenfalls für vergessen, bis mir das Magazin vor ein paar Tagen ins Haus flatterte und ich sie darin abgedruckt fand.

Aus: Nicht-Sommer

(P.S. DUM enthält auch eine Porträtaufnahme von mir, die viel zu alt ist und ich daher viel zu jung aussehe, wenig überraschend. Ich hatte vergessen, dass DUM keine Zusagen verschickt und daher auch keine Updates in Sachen Autorenfotos und Kurzbiografien erhält.)

Und ja – was ist denn nun eigentlich ´Pataphysik? Vor 75 Jahren entstand mit dem Collège de ’Pataphysique in Paris ein Zuhause der Bewegung. Vielleicht sollte das Alfred Jarry, der Begründer der Pataphysik, das Ganze erklären: „La ´Pataphysique est la science des solutions imaginaires qui accorde symboliquement aux linéaments les propiétés des objets décrits par leur virtualité.“ („Die ´Pataphysik ist die Wissenschaft der imaginären Lösungen, welche die Denkskizzen symbolisch mit den Eigenheiten von Objekten, beschrieben durch ihre Möglichkeit, in Zusammenklang bringt.“)

Ist Ihnen jetzt alles klar? Nein? Ehrlich gesagt, mir auch nicht. Alles, was ich von ´Pataphysik weiß, ist eher eine Ahnung. Kein Wunder.

Véritable portrait de Monsieur Ubu nach einer Zeichnung von Alfred Jarry (1873-1907)

Irritation und Wunder sind hier sozusagen Programm. Dabei ist ´Pataphysik durchaus eine Wissenschaft – und das genaue Gegenteil davon. Es ist die absolute Herrschaft und Anarchie – der Fantasie nämlich. ´Pataphysik ist todernst und zum Totlachen. ´Pataphysik ist reine Absurdität. ´Pataphysik ist älter als Dada und Surrealismus und doch wäre beides nicht ohne Jarry und seinen König Ubu denkbar – Das 1896 uraufgeführte Drama wurde vom Surrealismus und Dadaismus gefeiert. Jarry, der sich im späteren Leben immer mehr mit seiner Figur identifizierte, signierte am Ende sogar mit Ubu.

Als ich meinen Texte „Notate zur versuchten Ausrottung der Sommersprossen“ bei der diesjährigen Ausschreibung der Zeitschrift der Wiener Schule für Dichtung einreichte, war ich nicht sicher, ob das, was ich da getan hatte, denn wirklich als ´Pataphysik zu bezeichnen ist. Doch ich hatte im Verlauf dieses speziellen Jahres in nicht ganz wissenschaftlich haltbaren Selbstversuchen erfahren, dass Surreales, Dadaistisches und nun auch ´Pataphysikalisches allen Nahrungsergänzungsmitteln und jeder Ratgeberliteratur überlegen sind. Und überhaupt, wie heißt es so treffend im Vorwort von Fritz Ostermayer?

„…und per definitionem seien zudem diejenigen die wahren pataphysiker:innen, die sich ihrer pataphysischen natur gar nicht bewusst wären.“

Na also.

Wie viele Meilen unter dem Meer

stellt euch vor,

 ihr Piraten und Besatzer des Yellow Submarine

nicht weit vom heißen Beutestrand, jenseits der Korallengärten, 

lasst ihr euer Gefährt zurück am Rand der Unterwasserklippe.

Stellt euch vor

Ihr lasst euch fallen, wo

Lichtsprenkel und Funken rasch verlöschen

© illustrationen: anke laufer, 2022

irgendwo bei den Marianen, Süd-Sandwich,

Puerto Rico oder Sunda,

wo das Kliff ins Bodenlose stürzt,

über die Bruchkante in den Graben

abwärts

zwischen Land und kalter Tiefe. 

stellt euch vor, wie eure Lungen schwinden,

ihr zu Kiemen und Flossenwesen werdet,

stellt sie euch vor,

eure schuppigen Leiber aus uralten Mythen,

euer silbriges Blitzen im schwindenden Licht,

euren Unterwasserflug an Balkonen, Simsen

vorbei

an seitwärtigen Tälern, Nischen, Unterwasserauen,

dann weiter hinab ins Nichts

lasst euch selbst los im Sog

vergesst euch selbst im Mahlstrom,

lasst euch hinabreißen

in die Kellergeschosse und zerklüfteten Unterwelten,

wo Drifte und Strömungen an euch zerren, wo Plankton vorbeirast

wie Schnee am nächtlichen Autofenster –

dann auf einmal wird es still

öffnet die Augen. Dort,

wo eine Tiefseequappe sich dreht und windet im stillen Tanz

wo Kragenhaie auf Raubzug gehen, mächtige Krebstiere mit Scherenhänden winken,

wo Kopffüßler über uns hinwegschießen wie fahle Pfeile

wo Rippenquallen schillern und wie von selbst verlöschen

wo Perlboote aufsteigen und sacht über uns hinwegtorkeln

wo Seelilien die Anker ihrer Wiesen lichten, um anderswo Beute aus der Strömung zu fischen

wo Milliarden winziger Lebenssterne im Reich der Finsternis glimmen

wo ein Riesenkalmar, eben einem Seefahrermärchen entstiegen, im freien Wasser schwebt und uns beäugt  –

Dort drüben jedoch

in jenen Spalten zwischen Felsknollen, in jenen steinernen Tunneln und Augenhöhlen verpasst ihr jetzt, genau jetzt,

die Begegnung mit drei unbekannten Arten während

eine Plastiktüte euch ablenkt, die über den Abhang dümpelt

all die Wesen, kaum erblickt oder nie entdeckt,

keinem nutzt der stachelige Trotz, keinem die Fangzähne

preisgegeben sind sie

wo der menschliche Beutegreifer sich tummelt 

da wirbelt eine Wolke vor euch auf

keine Tränen trüben die Sicht,

nur Schlick, oder vielleicht

ein flimmernder Schleier aus Krebstierchen

eine kleine Weile

bis der letzte Vorhang sich hebt

und ihr glaubt, am einsamsten Ort der Welt angekommen zu sein

wo ein schwarzer Raucher

wie eine dunkle Märchenfabrik aus der Tiefe wächst

es kochend heiß aus allen Kaminen quillt

der Zyklus sich wendet – 

Legionen grauer Garnelen wimmeln und drängeln

Etwas tüpfelt und krabbelt geschäftig um die Schlote

Seegurken kreiseln wie eine Flotte praller Zeppeline,

Scharen von Schleimaalen putzen das Aas vom Boden

während es herabregnet, auf sie alle, unaufhörlich

Kot, Glibber und Knochen

Fasern, Plastik, Pflanzenteile

Gräten und Teer,

all das fängt die Tiefe auf

mit tausendundein nachtsamtenen Mäulern

schluckt Nahrung und Gift

und macht es neu

all das Leben

Wie viele Meilen unter dem Meer ist ein Text, den ich zum Jahresbeginn 2023 für eine multimediale Kunstaktion von XR/ extinction rebellion Stuttgart verfasst habe, in der es um die Bedrohung der Tiefsee durch die bevorstehende Freigabe des Meeresbodens für den Bergbau geht. Viele, auch bisher unbekannte Arten, werden dabei wohl ausgelöscht werden. Beim Abtragen des Meeresbodens mit Hilfe schwerer Maschinen werden womöglich auch dort lagernde natürliche Kohlenstoffspeicher zerstört – mit unabsehbaren Folgen für die sich verschärfende Klimakrise. Für mehr Informationen siehe https://rebellion.global/

https://www.greenpeace.de/biodiversitaet/meere/meeresschutz/tiefsee-gefahr

Mein surreales Jahr

Kurz darauf bringt der Mann den Seehund ins Haus, der fortan nachts zwischen ihnen liegt. Lisbeth liegt auf dem Rücken und lauscht. Sie hört, wie das Fell des Seehunds über die Haut des Mannes schabt, sie hört, wie ihm der Leib des Seehunds zwischen den Fingern knistert. 

Aus: Lisbeth springt

Zum Ausklang des Jahres 2022 erkundete ich mit meiner Kollegin Livia Scholz-Breznay und unseren Studierenden an der dekart, der Design + Kunst Akademie Reutlingen, zum wiederholten Mal die künstlerischen Dimensionen des Dadaismus. Zum Auftakt des Jahres 2023 wandten wir uns gemeinsam dem Surrealismus zu. Wie schon innerhalb des Dadaismus, so erkennt man auch ein surrealistisches Kunstwerk nicht an Stil und Pinselstrich. Man kann ein Pissoir ausstellen und es zum Kunstwerk erklären wie Marcel Duchamp (einfach, weil es einem gefällt!). Man kann eine Tasse mit Pelz überziehen wie Meret Oppenheim, oder eine Menagerie seltsamer und doch vertrauter Geisterwesen erfinden, sie malen und über sie erzählen, wie Leonora Carrington. Sofort wird klar: Sowohl beim Dadaismus wie beim Surrealismus handelt es sich um nicht weniger als eine Revolution, ein sich Aufbäumen gegen Konvention und Autorität, ein Sprengen innerer Fesseln und äußerlicher Grenzen – eine Geisteshaltung also, die sich der Loslösung und der Freiheit verschrieben hat, einer inneren Freiheit der Vorstellungskraft, die weit jenseits von allem liegt, was mit Konsum und Globetrotterromantik zu erkaufen ist.

Inspirationen gewann der Surrealismus vor allem aus der Beschäftigung mit dem Unbewussten, dem Absurden und Fantastischen und den Träumen. Damit findet diese Kunstbewegung zu Bildern, die Unsagbares, Unbeschreibliches zu fassen vermögen, den Subtext, den wir manchmal als einen kalten Schauer im Rücken spüren, das Gespenst einer Möglichkeit, einer Emotion, der wir bisher aus dem Weg gegangen sind und die uns sacht mit einer Fingerspitze berührt.

Jorge Luis Borges, einer der Meister des literarischen Surrealismus, hat das Leben einst als einen Garten der verzweigenden Pfade beschrieben, aber vielleicht meinte er auch nur das Buch, die Literatur, das Geschichtenerzählen. Ein entstehendes Buch als einen Irrgarten zu beschreiben, ist also nicht wirklich etwas Neues, und es bringt noch nicht einmal neue Einsichten in die tägliche Arbeit, die einer beunruhigten und von ganz reellen Sorgen geplagten Schriftstellerin von Nutzen sein könnten. Mit dem Leben ist es ganz genau so: Hinter jeder verpassten Abzweigung liegt eine verworfene Alternative zu dem Leben, das man tatsächlich geführt hat. Glücksgefühle, Katastrophen, Ungewissheit, Erfüllung – Schicht um Schicht.

© anke laufer, 2021

Die weißen Zehen versinken im sumpfigen Grund, Gräser peitschen Striemen in ihre Haut. Sie stützt sich auf den Spaten und schaut hinab ins goldbraune Wasser.

Flohkrebse schießen, Molche dümpeln. Sie bückt sich nach einem Blinken. Lisbeth reibt den Dreck von Kopf und Zahl und steckt eine Münze in die Schürzentasche. Dann tut sie dasselbe ein zweites, ein drittes, ein viertes, ein fünftes Mal. Der Schlamm ist voll glänzender Sterntaler, die sie blankreiben muss. Ein Auskommen. 

Lisbeth bürstet sich vor dem blinden Spiegel die Nässe aus dem Haar.

Aus: Lisbeth springt

Borges war von einer Reihe von Metaphern und Symbolen besessen. Dazu gehören sein Sandbuch, Labyrinthe, Archive und auch Spiegel. Eigenbeobachtung, zersplitternde Spiegelbilder und Identitäten, Selbstbefragung und Verwandlung: all das und vieles mehr steckt in und hinter den Spiegeln.

Seit ziemlich genau einem Jahr entwickle ich tastend, schreibend ein Gespür dafür, welch mächtiges Instrument jenes künstlerisch-subversive Träumen bei der Bewältigung innerer und äußerer Krisen sein kann, während ich – wie es das Schicksal zuweilen will – mit eigenen Dämonen zu kämpfen habe. Nicht von ungefähr entstand der Surrealismus in einer von Krisen und Verwerfungen geschüttelten Epoche, die unserer Zeit in vieler Hinsicht gleicht. Leonora Carrington verarbeitete in Gemälden und Erzählungen ihren psychischen Zusammenbruch nach der Trennung von Max Ernst in der Folge von dessen Verfolgung und zweifacher Verhaftung. Betrachtet man ihr Gemälde Down Below von 1940, in dem sie ihre alptraumhafte Zeit in einer spanischen Nervenheilanstalt in dunkle Visionen fasst, so wird klar: je mehr Freiheit man der Entfaltung innerer Bilder gewährt, je absurder und befremdlicher diese Bilder zunächst erscheinen mögen, desto mehr treffen sie den Kern einer inneren und in vielen Facetten schillernden Wahrheit.

© anke laufer 2022

Die Vögel rucken mit den Köpfen, beäugen sie, drei, acht und neun, sperren die Schnäbel auf und zeigen ihre blauen Zungen. Einer schlägt jetzt weit mit den Flügeln, bevor ein fahles Fiepen aus seiner schneeweißen Brust dringt. Aus anderen Schnäbeln platzt orangenes Schnattern, kupferbraunes Krächzen, ginstergelbes Geckern, tausendfach vom Echo zurückgeworfen.

Sie wetzen eifrig ihre Schnäbel, wetzen die Schnäbel wieder und wieder, recken ihre Hälse und werfen ihre Köpfe hin und her, watscheln und flattern Richtung Höhlenauge, Augenhöhle, wo der Wind heult. Dort, am äußersten Rand, schütteln sie ihr Federkleid noch einmal im Morgenlicht, spreizen ihre Schwingen

fallen hinaus

Lisbeth sieht zu, wie der Seewind sie mit seinen Händen greift und hinaufwirft ins Blau, wo ihr Gefieder aufleuchtet, als hätten Spielzeuge Feuer gefangen.“

Aus: Lisbeth springt

Das gefiederte Jahr

Der Prosatext „Das gefiederte Jahr“ hat seit seiner Entstehung 2019 viele Überarbeitungen erfahren – lange war ich mit keiner Version zufrieden. Zu Beginn des neuen Jahres ist der Text nun zweifach erschienen.  

Zum einen in der Literaturzeitschrift Haller, deren 19. Ausgabe unter dem Titel „Up, up and away: Ich will fliegen!“ stand.

Und, so gut wie zeitgleich, in der 40. Ausgabe der Literaturzeitschrift Konzepte, die den Titel „Der Mensch, das Tier“ trägt.

Der Text beschreibt die qualvolle Verwandlung einer Frau in ein Vogelwesen, der sie sich zunächst mit allen Mitteln zu verweigern versucht.

 „Längs der Arme, elf Tage später, begann das Frösteln sich in Stiften zu manifestieren. Follikel durchdrangen die oberste Schicht, stießen durch Sommersprossen und Hautfalten. In der dritten Woche schoben sich wachsende Schäfte aus den Blutkielen, brachen auf und entfalteten beiderseitige Fahnen, Äste, schimmernde Bogen- und Hakenstrahlen.

Nachts pflückte ich sie mir von der Haut, die neue Existenz, spürte das Ungeduldjucken, ganz so wie zur Kinderzeit im Blutgrund der Milchzähne, auch da half nur störrisches Lockern und Fingerzupfen und ein letzter Ruck. Sah zu, wie roter Saft aus den Wurzellöchern perlte. Flötete mir selbst und dem Mond ein Einschlaflied. Der Boden war mit traurigen Federn bedeckt, weiß und grau und rot wie Blut.“    

Doch zu süß war der Lockruf, die Worte wie Körner in einer offenen Hand. Den Kropf mit seinem Gold zu füllen wurde alsbald mein einziger Hunger. Der König verstreute die Saat, Zeile für Zeile, von Tag zu Tag, von Mond zu Mond.

So dass es zu Kräften kam, das gefiederte Ich, Schwungfeder um Schwungfeder durch den gewetzten Schnabel zog, die Flügel ausbreitete, sie spreizte über dem Horizont. In seinem Blick spiegelten sich Wolken und Dächer, Antennen und Türme.  

Bis es hinausstieß, wohin es gehörte. Als das Licht in seinen Schwingen sang, als es sich in Häuserschluchten stürzte, wie es schließlich am Klippenrand emporschoss und sich über dem Moor fallen ließ, da endlich wurde es fortgetragen von Rauch und Sturm, wohin es wollte.“

„gernweh“ – neolith

Bis Ende Juli 2022 suchte die Redaktion von neolith, der ich seit der Entstehung des letzten Hefts zum Thema „Zuflucht“ angehöre, nach literarischen und künstlerischen Beiträgen zum Thema „gernweh“. neolith, das Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, erscheint nun nach Monaten harter Arbeit. Ich selbst durfte darüber hinaus das Coverbild beitragen.

Am 15.Februar werden wir als Redaktion gemeinsam mit Autoren des letzten und des aktuellen Hefts und dem interessierten Publikum das Release von neolith#7 feiern. Das Erscheinungsfest findet ab 19:00 Uhr in den Quartierräumen des Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums statt.

Verlust, Verfolgung, Grenzen, Sehnsucht: Veröffentlichungen im Januar 2023

Der Verlag Juno Editions hat in diesem Jahr eine Anthologie in englischer und deutscher Sprache herausgegeben, in der sich literarische Stimmen aus ganz Europa vereinen. „Connected Europe“ ist der Titel der Short Story Collection, in der mein Text „Emma und Eve“ nun zum zweiten Mal erscheint, der 2021 eine Auszeichnung der Akademie für das gesprochene Wort und des deutschen PEN-Zentrums erhalten hatte. In „Emma und Eve“ geht es um die Begegnung zwischen einer jungen und einer sehr viel älteren Frau, die sich während eines Lockdowns über zwei benachbarte Balkone hinweg anfreunden. Es geht um innere und äußere Grenzen, um Sehnsucht in Zeiten der Pandemie, um Vorurteile, um Liebe, um Erinnerungen, um Verluste und um neuen Mut.

Am Morgen fällt mein Blick als Erstes auf den sonnenbeschienenen Fleck neben dem Bett, wo das gebrauchte Kondom liegt, zusammengerollt wie ein zertretenes Weichtier.

Ich stehe auf, schlüpfe in den alten Bademantel und zurre den Gürtel fest, nehme das Ding mit spitzen Fingern hoch und trage es hinaus auf den Balkon, wo ich es in die Restmülltonne fallen lasse. 

Sie sollten vorsichtig sein, sagt eine Stimme ganz in der Nähe.

Ich schnappe nach Luft. Es ist meine Nachbarin. Der Kater sitzt diesmal zu ihren Füßen und schickt mir einen abschätzigen Blick.

Ich kann schon auf mich aufpassen. Aber danke, sage ich.

Meine mit dem Godesberger Literaturpreis ausgezeichnete Short Story „Klauber und die Füchsin“ wurde zuerst 2020 in der britischen Literaturzeitschrift Tigershark veröffentlicht – und seither mehrere Male. Die Erzählung über einen verschrobenen alten Mann, der einer jungen Frau Unterschlupf gewährt, die sich auf der Flucht vor den Schergen eines autoritären Regimes befindet, scheint derzeit verständlicherweise einen Nerv zu treffen. Im vergangenen Monat erschien die Story noch einmal in der Anthologie „Drahtseilakt“ sowie im Almanach „hier war ich, dort bin ich“ in der Reihe „Literaturblätter der Deutschen aus Russland“.        

„Sie wurden beobachtet. Sie haben ihr aufgelauert und sie ins Haus gelockt“, sagt der Ältere.

„Ich habe sie hereingebeten.“

„Warum?“

„Warum? Sie brauchte eine Freistatt. Ganz offensichtlich.“

„Was?“

„Einen Unterschlupf“, sage ich.

„Warum sagen Sie das dann nicht?“

„Freistatt ist das treffendere Wort“, sage ich und fasse ihn fest ins Auge.

Mit Worten machen es die Leute heutzutage wie mit Wölfen. Taucht eines auf, das sie nicht mögen, wird nach ihm geschossen.

foto: © anke laufer, 2022

Fort – von der Notwendigkeit aufzubrechen

Es ist Anfang August 2022. Die Welt dort draußen ächzt unter der nächsten Hitzewelle – einem Zeichen, das inzwischen jeder lesen kann, wie der Ich-Erzähler in meiner Short Story „Der silberne Falter“ wie nebenbei bemerkt. Die Pandemie scheint – zumindest für den Moment – in den Hintergrund unseres Alltags gerückt zu sein und wir freuen uns wieder auf das Reisen, so sehr es auch durch Staus, Lieferengpässe und abgesagte Flüge erschwert wird. Fort, bloß fort zieht es uns. Das Unterwegssein erscheint zugleich als Flucht und Belohnung. Wir werfen einen Blick über die Schulter zurück – und sehen zweieinhalb schwierige Jahre, welche die Welt verändert haben. Auf einmal ist uns bewusst, was wir verlieren könnten – und ziehen Bilanz über das, was wir bereits verloren haben. Die Erkenntnis, der wir uns womöglich verweigern, lautet: Stillstand ist keine Option. Schriftsteller*innen neigen vielleicht dazu, ihre Abenteuer im Kopf stattfinden zu lassen, Drahtseilakte auf die Fiktion zu beschränken – doch Aufbruch und Wagnis sind eine Notwendigkeit im Leben, selbst für Schriftsteller*innen mittleren Alters.

Die zwölf großen Gefühle

Es gibt einiges aufzuholen, was den Inhalt dieser Website angeht. Zum Beispiel wäre zu berichten gewesen, wie die virtuelle Preisverleihung im Literaturhaus Zürich am 4. Februar dieses Jahres verlief – eine logistische Meisterleistung, bei der alle zwölf Preisträger des Wettbewerbs „Die großen Zwölf“ (präsent auf einer riesigen Leinwand, von Zoom-Kacheln lächelnd) ihre Texte lasen und interviewt wurden – während kurioserweise das Publikum selbst live im Literaturhaus dabei sein durfte. Mit den „Großen Zwölf“ waren übrigens nicht die ausgezeichneten Autor*innen gemeint, sondern zwölf große Emotionen, welche die monatliche Themenstellung bestimmten: „Hoffnung“ war das Thema im Januar – dem Monat, in dem mein Text „Das Zeichen“ die Ausschreibung gewann – ein hoffnungsfroher Start ins literarische Jahr also.

Zuflucht

Ein paar Wochen erlebte ich den Aufwand, den die Organisation und die Aufzeichnung eines großen Online-Events bedeuten, dann auch aus der Sicht der Macher*innen mit. Seit der letzten Ausgabe der Literaturzeitschrift neolith (beheimatet an der Bergischen Universität Wuppertal) bin ich – Dank virtueller Meetings – Teil des Redaktionsteams. Am 27.Februar zeichneten wir unsere Online-Releaselesung mit allen an der aktuellen Ausgabe – neolith#6 zum Thema „Zuflucht“ – beteiligten Autor*innen auf, die ihr hier findet: https://www.youtube.com/watch?v=hirCZahD6uY.

Am 7. Mai gab es dann auch nochmal eine Live-Veranstaltung zum Erscheinen von neolith#6, organisiert vom Literaturhaus Wuppertal – bei dem die Macher*innen der Literaturzeitschriften neolith, Karussell und KLiteratur aufeinandertrafen und miteinander über ihre Arbeit ins Gespräch kamen.

Hoffnung. Trauer.

Die Ausgabe von neolith stand dieses Mal im Zeichen des Themas „Zuflucht“. Sie gewann in diesem Frühjahr mit dem russischen Überfall auf die Ukraine an unerwarteter Aktualität. Auch als ich im März mein kleines Gedicht „Paket“ für die Spendenanthologie #Antikriegslyrik des Berliner Trabantenverlags verfasste (nein, ich bin keine Lyrikerin, aber es war für einen guten Zweck) ahnte ich nicht, dass es mir im August noch einmal begegnen würde – nämlich im Rahmen einer Handreichung des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Gestaltung von Gottesdiensten zu Volkstrauertag.

Das literarische Vermächtnis eines russischen Studenten

Eine besondere Freude war es für mich, den diesjährigen Daniil Pashkoff Prize in der Sparte Prosa (over 19, obviously ;)) zu gewinnen.

In einer anderen Sprache zu schreiben, ist ein Aufbruch und ein Wildern im fremden Territorium. Da kann und muss vieles schiefgehen. Das Spiel mit Übersetzung und Bedeutung öffnet aber auch ungeahnte Möglichkeiten, besonders für die Schreibenden selbst. Die Frage und Ahnung, mit welcher (authentischen) Stimme man in einer anderen Sprache schreiben könnte, ist für Autor*innen wohl eine der spannendsten überhaupt.

Der Daniil Pashkoff Prize for Creative Writing in English by a Non-Native Speaker wird alle zwei Jahre für Texte in englischer Sprache verliehen, die von Nichtmuttersprachler*innen verfasst wurden. Benannt ist der Preis nach Daniil Pashkoff, dem ersten russischen Anglistikstudenten an der TU Braunschweig. Er brachte aus seiner Heimatstadt Novosibirsk eine ansteckende Leidenschaft für die englische Sprache und Literatur mit. Daniil verstarb unerwartet im Juli 1998 im Alter von nur 27 Jahren und hinterließ einen großen Freundeskreis, der um sein einzigartiges Talent trauerte. Aufgrund dessen entstand die Idee, einen Preis für kreatives Schreiben in englischer Sprache unter Nichtmuttersprachler*innen auszuloben.

Die festliche Verleihung der Preise fand in diesem Jahr am 11. Juni im alten Rathaus in Braunschweig statt.

Auf der Insel

Auch bei den sogenannten Bieler Gesprächen, die in diesem Jahr vom 2. bis 3. Juli wieder live und vor Ort im Schweizerischen Literaturinstitut in Biel stattfanden, ging es vor allem um Literatur, Sprache und Übersetzung – in diesem Falle zwischen Italienisch, Französisch und Deutsch. Ich war bei den Bieler Gesprächen mit einem Auszug aus meiner Story „Die Insel“ zu Gast, die in einem Forum von Autor*innen, Sprachwissenschaftler*innen und Übersetzer*innen diskutiert wurde – für mich eine unglaubliche Erfahrung. Einer solchen Runde entgeht keine Schwäche des Textes – während ein Lob aus ihrer Mitte eine köstliche Labsal für die (mehr oder minder) stets zweifelnde Schriftsteller*innenseele darstellt.

Vielleicht entdeckst du sie deshalb, die Insel. Dieses von allem abgeschnittene Territorium, herausgesäbelt aus den Gefilden tief unter dir, inmitten der mehrspurigen Schleifen, der sichelförmigen Zu- und Abfahrten, jenseits eines Bahndamms, diesseits eines Stausees, in südöstlicher Richtung verjüngt zu einer Zunge, die sich unter die Brücke schiebt. Eine Insel, ganz eindeutig: Ausmaße, Morphologie, Baumbestand, Zeit- und Erdschichten, halb versunkene Festungswälle von Großbaustellen, denen kleinere Eingriffe folgten, wieder vernarbten, während sich der Verlauf der Fahrbahnen um neue Grate und Verwerfungen erweiterte. Doch im Zentrum überlebte die Insel, ein Eiland von beachtlicher Größe im Meer der menschengemachten Ödnis – schattig, einsam, üppig. Wild.“

„Die Insel“ erscheint demnächst in englischer Übersetzung im vierteljährlich erscheinenden Journal
Trafika Europe der Penn State University, New York.

Umbruch. Aufbruch.

Für mich ist es eine seltsame Zeit, dieser Sommer 2022. Umbrüche liegen hinter mir – unter anderem zwei Covid-Erkrankungen, die ohne vollen Impfschutz wohl weit weniger glimpflich verlaufen wären. Es ist eine Zeit des Innehaltens, kurz vor dem Aufbruch.

Den größten Teil des Herbstes werde ich für einen Schreib- und Rechercheaufenthalt in den englischen Grafschaften Devon und Somerset nutzen – gesplittet zwischen einem Cottage an der Südküste, einer sogenannten Sheperd Hut im Herzen der Blackdown Hills und dem Artist Retreat Awakenings at Wick.

Arbeiten werde ich am Abschluss eines Projekts mit dem Arbeitstitel „Phantomgrenzen“, einer Art surrealem Roadmovie im Europa der Zukunft, in dem sich Geschichten um unterschiedliche Figuren verzweigen und neu verflechten.

Zudem werden Illustrationen und Texte für ein gemeinsames Projekt mit dem englischen Lyriker Matt Bryden entstehen – ein Aufbruch in die lange vernachlässigten Gefilde von Zeichenstift und Farbe, noch ein Wagnis also – das Risiko einer Blamage inbegriffen.

Doch was gibt es dabei denn wirklich zu verlieren – außer der Hoffnung?