Wie viele Meilen unter dem Meer

stellt euch vor,

 ihr Piraten und Besatzer des Yellow Submarine

nicht weit vom heißen Beutestrand, jenseits der Korallengärten, 

lasst ihr euer Gefährt zurück am Rand der Unterwasserklippe.

Stellt euch vor

Ihr lasst euch fallen, wo

Lichtsprenkel und Funken rasch verlöschen

© illustrationen: anke laufer, 2022

irgendwo bei den Marianen, Süd-Sandwich,

Puerto Rico oder Sunda,

wo das Kliff ins Bodenlose stürzt,

über die Bruchkante in den Graben

abwärts

zwischen Land und kalter Tiefe. 

stellt euch vor, wie eure Lungen schwinden,

ihr zu Kiemen und Flossenwesen werdet,

stellt sie euch vor,

eure schuppigen Leiber aus uralten Mythen,

euer silbriges Blitzen im schwindenden Licht,

euren Unterwasserflug an Balkonen, Simsen

vorbei

an seitwärtigen Tälern, Nischen, Unterwasserauen,

dann weiter hinab ins Nichts

lasst euch selbst los im Sog

vergesst euch selbst im Mahlstrom,

lasst euch hinabreißen

in die Kellergeschosse und zerklüfteten Unterwelten,

wo Drifte und Strömungen an euch zerren, wo Plankton vorbeirast

wie Schnee am nächtlichen Autofenster –

dann auf einmal wird es still

öffnet die Augen. Dort,

wo eine Tiefseequappe sich dreht und windet im stillen Tanz

wo Kragenhaie auf Raubzug gehen, mächtige Krebstiere mit Scherenhänden winken,

wo Kopffüßler über uns hinwegschießen wie fahle Pfeile

wo Rippenquallen schillern und wie von selbst verlöschen

wo Perlboote aufsteigen und sacht über uns hinwegtorkeln

wo Seelilien die Anker ihrer Wiesen lichten, um anderswo Beute aus der Strömung zu fischen

wo Milliarden winziger Lebenssterne im Reich der Finsternis glimmen

wo ein Riesenkalmar, eben einem Seefahrermärchen entstiegen, im freien Wasser schwebt und uns beäugt  –

Dort drüben jedoch

in jenen Spalten zwischen Felsknollen, in jenen steinernen Tunneln und Augenhöhlen verpasst ihr jetzt, genau jetzt,

die Begegnung mit drei unbekannten Arten während

eine Plastiktüte euch ablenkt, die über den Abhang dümpelt

all die Wesen, kaum erblickt oder nie entdeckt,

keinem nutzt der stachelige Trotz, keinem die Fangzähne

preisgegeben sind sie

wo der menschliche Beutegreifer sich tummelt 

da wirbelt eine Wolke vor euch auf

keine Tränen trüben die Sicht,

nur Schlick, oder vielleicht

ein flimmernder Schleier aus Krebstierchen

eine kleine Weile

bis der letzte Vorhang sich hebt

und ihr glaubt, am einsamsten Ort der Welt angekommen zu sein

wo ein schwarzer Raucher

wie eine dunkle Märchenfabrik aus der Tiefe wächst

es kochend heiß aus allen Kaminen quillt

der Zyklus sich wendet – 

Legionen grauer Garnelen wimmeln und drängeln

Etwas tüpfelt und krabbelt geschäftig um die Schlote

Seegurken kreiseln wie eine Flotte praller Zeppeline,

Scharen von Schleimaalen putzen das Aas vom Boden

während es herabregnet, auf sie alle, unaufhörlich

Kot, Glibber und Knochen

Fasern, Plastik, Pflanzenteile

Gräten und Teer,

all das fängt die Tiefe auf

mit tausendundein nachtsamtenen Mäulern

schluckt Nahrung und Gift

und macht es neu

all das Leben

Wie viele Meilen unter dem Meer ist ein Text, den ich zum Jahresbeginn 2023 für eine multimediale Kunstaktion von XR/ extinction rebellion Stuttgart verfasst habe, in der es um die Bedrohung der Tiefsee durch die bevorstehende Freigabe des Meeresbodens für den Bergbau geht. Viele, auch bisher unbekannte Arten, werden dabei wohl ausgelöscht werden. Beim Abtragen des Meeresbodens mit Hilfe schwerer Maschinen werden womöglich auch dort lagernde natürliche Kohlenstoffspeicher zerstört – mit unabsehbaren Folgen für die sich verschärfende Klimakrise. Für mehr Informationen siehe https://rebellion.global/

https://www.greenpeace.de/biodiversitaet/meere/meeresschutz/tiefsee-gefahr