Leseproben Essays

 

„Die Anzahl der Seiten dieses Buches ist haargenau unendlich. Keine ist die erste; keine die letzte. Ich weiß nicht, warum sie in dieser willkürlichen Weise nummeriert sind. Vielleicht um zu verstehen zu geben, dass die Punkte einer unendlichen Reihe eine beliebige Zahl annehmen können.“                                                          Jorge Luis Borges: Das Sandbuch

 

„Auf einem Dorfe in Schottland verkauft man Bücher, die irgendwo in dem  Band verstreut eine weiße Seite enthalten. Wenn ein Leser Schlag drei Uhr nachmittags auf jene Seite stößt, so stirbt er.“

Julio Cortázar: Muster einer Unterweisung in der Form, Angst zu haben

 Bogotá – un libro al viento – ein vom Wind durchblättertes Buch

Stellen Sie sich einen Unbekannten vor. Er steigt an einer der vielen Haltestellen Bogotás in ein Fahrzeug des Transmilenio und geht den Gang zwischen den Sitzreihen entlang. Sein Blick streift die anderen Fahrgäste, um schließlich an einem Buch hängen zu bleiben, das auf dem Kunstlederpolster eines freien Platzes liegt. Von diesem ist eben erst eine Frau aufgestanden, an ihm vorbeigeeilt und ausgestiegen, um in der Menge zu verschwinden. Sie hat den Duft von frisch gewaschenem Haar zurückgelassen und das Buch –  für ihn, wie ihm scheint. Der Unbekannte kann nicht widerstehen, er hat eine Schwäche für Bücher. Während er danach greift, bringt ihn der anfahrende Bus etwas aus dem Gleichgewicht, doch noch ehe er sich setzt, hat er bereits den rätselhaften Titel, dann die sonderbare Bitte auf der Umschlagrückseite gelesen: „Dies ist ein Libro al viento. Es ist seine Bestimmung, von Ihnen gelesen zu werden und von vielen nach Ihnen. Legen Sie es deshalb zurück, wenn Sie es beendet haben, und halten Sie Ausschau nach einem anderen.“

Bei dem Buch, in das sich der Mann nun auf seiner Fahrt durch die Stadt vertieft, handelt es sich um einen Band aus der Reihe „Libro al viento“, deren Herausgeber mein Freund und Kollege Julio Paredes ist. Stellen Sie sich vor, der Unbekannte hört zum ersten Mal von diesem Programm, doch die Idee, Abertausende von Büchern in der Stadt zu verstreuen und die Menschen so zum Lesen zu verführen, leuchtet ihm sofort ein. Ihn fasziniert die Vorstellung, wie dabei öffentliche Orte in eine Art flüchtige Bibliothek verwandelt werden, wo ein Windstoß Geschriebenes herbei- und wieder fortweht, keine Belanglosigkeiten, nein, sondern achtsam ausgewählte Texte, die man gerne liest und weitergibt. Noch während seine Fahrt andauert, beschließt der Mann daher, jener Bitte auf dem Umschlag nachzukommen und nach beendeter Lektüre das Buch in der Stadt zurücklassen, irgendwo, auf einer Treppenstufe, einer Türschwelle oder einer Parkbank, für denjenigen, der es nach ihm entdecken soll.

 

Bogotá war ein glücklicher, ein für mich bestimmter Fund. Ein Buch in der Stadt, eine Stadt im Buch, dem wechselhaften Licht und unsteten Wind der Hochebene ausgesetzt, der durch die Seiten blätterte. Ich begann zu lesen, suchte nach Antworten auf meine Fragen, verlor mich darin und überließ es zuweilen Wind und Zufall, die Seiten für mich zu wenden. Immer wieder stieß ich auf eine weitere Stelle, von der ein Erzähler, ein Bild, ein Ort zu mir sprach, oder auch nur eine dürre Statistik. Mir  war schnell klar, dass dieses Buch, das so viele Autoren hat und ständig fortgeschrieben wird, mich nicht loslassen und in mir nachklingen würde und dass ich mich dennoch damit abfinden musste, es niemals zu Ende zu lesen. Doch damit nicht genug: Ich wusste, der ganze Sinn meines Aufenthalts in dieser Stadt bestand darin, dem Buch bis zu meiner Abreise ein paar eigene Seiten hinzuzufügen, bevor ich es seinem Schicksal und dem Leser nach mir überließe.

­­*

Heute ist mein letzter Abend in der Stadt und ich sehe den Zeitpunkt für mich gekommen, das Buch Bogotá zu schließen und jener Aufforderung auf dem Umschlag zu folgen. Vor dem Fenster meines Zimmers im vierzehnten Stock des Hotels Tequendama leuchtet dieser grandiose, aber immer ein wenig melancholische Himmel. Diese unwiederbringlichen Farben, mit denen sich der Tag von den Bewohnern der Stadt zu verabschieden pflegt, machen mir die Sache nicht leichter. Endlich schiebe ich die wenigen von mir beschriebenen Blätter ganz hinten in das Buch. Es ist seltsam zuzusehen, wie es sich der Seiten bemächtigt, wie mein Text einer von vielen wird. Ich lege es auf die Fensterbank, in den Streifen aus bernsteinfarbenem Licht. Dann mache ich mich im dämmrigen Zimmer wieder ans Kofferpacken. Hotelblick Bogotá

Dabei überfällt mich Mutlosigkeit. Es ist eben nur ein löchriges Netz aus sich scheinbar zufällig aneinanderreihenden Vorkommnissen, Begegnungen, Flüchtigkeiten und schmerzhaften Abschieden, das sich in viereinhalb Wochen knüpfen lässt. Ein unvollkommenes und sehr persönliches Geflecht aus Deutungen und deren  Zusammenhängen, mit dem ich versuchen musste, mein Thema einzufangen.

Während ich im Bad stehe und beim Zähneputzen mein blasses Gesicht im Spiegel betrachte, denke ich nach, über all das. Diese Stadt ist ein Buch –  eine Behauptung, die sich durch einen Blick auf jenen Gegenstand, der im Abendlicht auf meiner Fensterbank liegt, leicht beweisen lässt. Aber wenn ich wirklich etwas über dieses Buch sagen will, muss ich davon erzählen, wie schwierig, wie anspruchsvoll die Lektüre dieser Stadt ist. Wie viele Texte sie enthält, unter denen andere Erzählstränge verschüttet liegen, wie vielversprechende Anfänge aus ihr hervorwachsen und lose Enden darin flattern, wie viele geheimnisvolle Bilder sie enthält, Fußnoten, Unterstreichungen und Anmerkungen der vorherigen Leser.

Auf einmal habe ich wieder die etwas heisere Stimme des Zimmermädchens im Ohr, das an einem ruhigen Schreibnachmittag auf meiner Fensterbank sitzt, die Beine baumeln lässt und mir von dem als Kind gehüteten Schatz eines Comicheftes und dem daraus entsprungenen Superhelden erzählt, den sie Jahre später auf der Avenida Caracas zu erkennen glaubte und dem sie folgte, bis sie ihn schließlich an der Ecke zur 57. Straße aus den Augen verlor. Mir fällt der in einer Vitrine zur Schau gestellte menschliche Schädel ein, den ich auf dem Flohmarkt von San Alejo entdeckte und dessen Zahnreihen aus unerfindlichen Gründen mit Kabelanschlüssen bestückt waren. Da ist der Duft nach Kaffee, Orangen und gebratenen Eiern im Café Boca. Mein verwackelter Schnappschuss eines jungen Soldaten, das Maschinengewehr beim Abschiedskuss zwischen sich und der innigen Umarmung seiner Liebsten. Und der klangvolle Name auf einer hingekritzelten Notiz – Apolinar Albarracin – den ich keinem Gesicht mehr zuordnen kann.

Das Buch Bogotá erfordert einen geübten Leser, der nicht nur entlang der Zeilen liest, sondern auch zwischen ihnen. Ein solcher Leser weiß, dass es gerade die Dinge sind, die der Autor nicht sagt, die Auslassung und Lücken, die Andeutungen und versteckten Symbole, manchmal sogar die Unzulänglichkeiten der Texte, die seine Vorstellungskraft in Gang setzen und ihm geheime Botschaften übermitteln.

Dies war auch der Grund, weshalb ich mich bald abwandte von den vielen Hochglanzseiten dieser Stadt: den wohlhabenden Vierteln des Nordens, den großen Museen und Theatern, den luxuriösen Hotels und Einkaufszentren, den Bürotürmen und Restaurants, in denen jede Küche der Welt vertreten ist. Stattdessen hatte ich mir vorgenommen, zwischen den Zeilen zu lesen und damit den Blick auf andere Seiten der Stadt zu richten, auf ihre Leerstellen, ihre Narben und dunklen Winkel. In diesem sich ständig im Fluss befindlichen Lebensraum bilden solche Aussparungen stille Inseln. Jede einzelne davon birgt eine eigene absonderliche oder auch ganz gewöhnliche Geschichte.

Ich denke daran, wie ich mich von dem seit langem verlassenen Hotel am Wasserfall von Tequendama kaum losreißen konnte, trotz des üblen Geruchs, der von dem trüben Gewässer ausging. Es ist ein verwunschener Ort, über dessen Anblick sich manches vergessen lässt. Viel später erst entdeckte ich im Buch Bogotá einige vergilbte Ausschnitte der Tageszeitung „El Tiempo“, die aus den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammten. Ein früherer Leser hatte sie wohl als Lesezeichen benutzt. Es waren dramatische Berichte und blumige Verse des Polizeireporters José Joaquín Jiménez über die unzähligen Bogotanos, die sich seinerzeit aufgrund ihrer Geldsorgen oder einer unerwiderten Liebe von den hohen Felsen des Wasserfalls zu stürzen pflegten und deren Abschiedsbriefe und Lebensgeschichten er dort aufsammelte. 9. Salto Tequendama1 (A.L.)

Demgegenüber tragen die vom Verfall geprägten Orte einer Stadt in den meisten Fällen einen eher schäbigen und weniger romantischen Charakter. Es sind fleckige und verunstaltete Seiten, die man da aufschlägt, die beunruhigen, herausfordern, zum Nachdenken zwingen. Ich spreche von Räumen und Winkeln, in denen sich Schutt und Müll ansammelt, wo im Boden die giftigen Hinterlassenschaften der einstigen Nutzer und Bewohner lauern, wo sich schmutzige Fingerabdrücke auf den müden Tapeten ablagern, wo die Treppenstufen ausgetreten und die Böden abgewetzt sind von unzähligen Schritten. Diese Seiten überblättert man gerne, sie sind das tägliche Ärgernis für Anwohner, Stadtplaner und Umweltbehörden, die solche Gebäude und Grundstücke lieber früher als später einer neuen und besseren Nutzung zuführen würden. Allein die Graffitikünstler Bogotás wissen diese Orte zu schätzen, sie nutzen sie zugleich als Freilichtateliers und Galerien und zeigen uns dabei ihre grelle Vision der Gegenwart, die dem Pulsschlag der Stadt so nahe kommt wie nur irgend möglich. Welche Gratwanderung dies bedeutet, führte mir der Tod des sechzehnjährigen Diego Felipe Becerra vor Augen, der am 19. August 2011, zu Beginn meines Aufenthalts, während einer Graffiti-Aktion von einem Polizisten erschossen wurde, ein Vorfall, der mich veranlasst hat, dem Buch Bogotá eine weitere handgeschriebene Notiz hinzuzufügen, einen improvisierten Nachruf wie so viele andere, die sich in den Marginalien finden.

Ich erinnere mich an diejenigen Abschnitte der Großstadt, wo sich die Armen und Ausgestoßenen zusammendrängen, die hier ein Auskommen suchen. Ich sehe die Zorreros vor mir, die mit mageren Pferden und einfachen Holzkarren mitten im modernen Straßenverkehr unterwegs sind, um Papier, Metalle und andere Wertstoffe zu sammeln. Auf Verkehrsinseln und Brachflächen am Rand der großen Straßen habe ich ihre Sammelplätze gesehen, wo sie das Material abladen und sortieren, wo sie unbrauchbare Reste verbrennen und die erschöpften Pferde mit hängenden Köpfen auf ihren nächsten Einsatz warten. 14.Zorreros (J.C.)

In einer Stadt wie Bogotá, die sich im rasanten Aufschwung befindet, in der die Luft gesättigt scheint mit neuen Ideen und Geschäftigkeit, die vibriert vom Rattern der Presslufthämmer auf den Baustellen für den Transmilenio, muss es wohl vielen schwer fallen, den Blick auf vernachlässigte und verfallene Orte und deren Bewohner zu richten. Ebenso wie man sich inmitten des Höhenflugs zwingen muss, die Hinterlassenschaften einer Vergangenheit wahrzunehmen, die man womöglich lieber vergessen hätte.

Wer sich aber dennoch die Mühe macht, genau hinzusehen, der entdeckt Seiten Bogotás, die voller Andeutungen auf missverständliche und sich verzweigende Geschichten sind, deren Auflösung man nicht immer erwarten darf. So erging es mir während einer Begehung des Geländes einer Straßenmeisterei, der „Unidad de Mantenimiento Vial“, aus dem einmal ein Park für die Anwohner werden soll. Dort stieß ich zwischen Schrott und Schuttbergen, die auf eine Wiederverwertung warten, auf vier alte Steinsockel. Einer davon trug das fein gearbeitete Relief eines Kondors. Niemand auf dem Gelände konnte mir über die Herkunft dieser verwitterten Quader Aufschluss geben, ja, vielfach war man täglich an ihnen vorbeigegangen, ohne sich ihrer Existenz bewusst gewesen zu sein.

Einer der langjährigen Mitarbeiter der Straßenmeisterei erinnerte sich später, dass meine Fundstücke von der Plaza Bolívar, dem Hauptplatz Bogotás, stammten. Ein zweiter spekulierte darüber, ob sie wohl zum alten Justizpalast gehört haben könnten, der seinerzeit in Flammen aufgegangen sei. Diese beiläufige Bemerkung verwies auf einen der schmerzlichsten Abschnitte in der Geschichte der Stadt. Man schrieb den 6. November 1985, als ein Kommando der Guerillagruppe M-19 sich Zugang zum Justizpalast verschaffte und ihn besetzte. Während der blutigen Wiedereinnahme durch die Militärs brannte das Gebäude völlig aus. Dabei starben über hundert Menschen. Auf einer Namensliste mit Verschwundenen stehen die Angestellten der Cafeteria des Hauses: Köche, Küchenhilfen, Kellner. Niemand weiß genau, was mit diesen Menschen geschehen ist und weshalb – es ist ein ganzes Bündel von Seiten, die man aus dem Buch herausgerissen hat. BilderBogotáV Demo 028

Nein, die von mir entdeckten Steinsockel waren keine Trümmerstücke aus jenem verbrannten Gebäude. Die mutmaßliche Lösung des Rätsels entdeckte ich nur ein paar Tage später durch einen merkwürdigen Zufall im Pavillon des Lichts, einem kleinen Bauwerk im neoklassizistischen Stil, das im Parque de la Independencia steht, unter Gummibäumen, Akazien und den schwindelerregend hohen Wachspalmen –  Bäume, von denen manche sagen, sie seien älter als die Stadt selbst. Im Pavillon sind ein paar wenige Archivaufnahmen ausgestellt, von denen mir eine recht unscharfe Schwarzweißfotografie ins Auge fiel. Sie war während der Abrissarbeiten an den vier Brunnen gemacht worden, die es früher auf der Plaza Bolívar gegeben hatte. Diese Brunnen waren einst von Stufen, niedrigem Mauerwerk und Straßenlaternen umrahmt. In den Sockeln dieser Laternen meinte ich die Steinquader zu erkennen, auf die ich auf dem Abraumgelände gestoßen war.

Unscheinbare Zeichen zu entdecken und die dahinter verborgenen Geschichten zu erzählen bedeutet, die Seiten eines Buches mit der eigenen Stimme zu füllen. Dies tun viele Einwohner der Stadt. Manche davon sind in dem Netzwerk von Schreibwerkstätten organisiert, das sich RELATA nennt und vom Kulturministerium unterstützt wird. In der Schreibwerkstatt „Stadtchroniken“, bei der ich zu Beginn meines Aufenthalts zu Gast war, schreiben Autoren über Verfall und Sterben der Schulen im Stadtzentrum, berichten vom Leben der Bauern, die sich in Usme gegen die zunehmende Verstädterung der Region am Rand von Bogotá wehren, und geben jenen Frauen eine Stimme, die von der Prostitution leben.

Eine Schreibwerkstatt im Rahmen des Programms Libertad bajo palabra (Freiheit im Zeichen des Wortes) besuchte ich am Vortag meiner Abreise. Jener Nachmittag im Frauengefängnis El buen Pastor wird mir für immer im Gedächtnis bleiben: Die Betonfronten im fahlen Sonnenlicht, buntscheckige Wäschestücke, die zwischen den Gitterstäben der Zellenfenster flattern, die sich gegenseitig durchdringenden Stimmen der Frauen im Innenhof und die eine Stimme, die alle anderen übertönt, die von einem Stück Papier abliest, was die Lesende selbst nicht glauben kann, nicht glauben will, die Geschichte eines harmlos beginnenden Streits um Nichtigkeiten, der mit dem gewaltsamen Tod einer Freundin endet.

Um Vergangenes und Verdrängtes ging es auch bei meinem Besuch bei den Cristos, einer Roma-Familie im Osten der Stadt. Inmitten dröhnender Hammerschläge, die aus der benachbarten Kupferwerkstatt zu uns drangen, erzählte man mir von der Großmutter, die als Siebenjährige aus Rumänien nach Kolumbien kam, nachdem sie zuvor im Holocaust fast alle ihre Angehörigen verloren hatte. Und wie ein Gespenst erschien in der Familiengeschichte auch jener in Argentinien wiedererkannte Spitzel und Verräter am eigenen Volk, dem sich nach einer Konfrontation mit der Vergangenheit alle Türen verschlossen. Im Licht dieser Überlieferungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Weissagungen der Roma auch immer mit Mahnungen und Warnungen verbinden – so wie es im Zwielicht jenes Nachmittags auf dem Sofa der Cristos geschah, als mir eine der jungen Frauen die Zukunft aus den Handlinien las und mir dabei einschärfte, ich solle dem äußeren Anschein der Dinge und Gesichter niemals trauen, während der hämmernde Rhythmus aus dem Nebenraum ein Ausrufezeichen nach dem anderen hinter ihre Worte setzte.

Mahnungen, Warnzeichen und Symbole. Die Leerstellen der Städte überall auf der Welt stehen nicht nur in der Literatur und im Film für den Niedergang menschlicher Zivilisation, die Vertuschung von Umweltvergehen, für Werteverfall, Korruption und für tiefes Elend. Hier ist es, wo uns moderne Gespenster heimsuchen, die uns bis in unsere Alpträume hinein verfolgen. Es war auf einem solchen der Verwahrlosung ausgelieferten Gelände, so erzählte mir Saúl Benavides von der Asociacion de granjeros de Guatiquia, auf dem sich Kriminelle und Drogenkonsumenten trafen, wo vor Jahren die zerstückelte Leiche eines kleinen Mädchens gefunden worden war, genau hier, so sagte er, hätten er und seine Freunde beschlossen, etwas zu ändern. Heute hat sich dieser Ort in einen Garten verwandelt; jetzt wird dort aus den Abfällen der Nachbarschaft Dünger hergestellt und Gemüse gepflanzt.

Denn die vernachlässigten Seiten einer Stadt, die Brachflächen, Bauruinen und Randgebiete bleiben nicht zwangsläufig Orte der Verzweiflung und der dunklen Machenschaften. Gerade in Lateinamerika sind sie die Räume für Pläne, Projekte, Existenzgründungen, für Selbstbehauptung und Protest, für Neubeginn und Hoffnungen. Dies zeigen die zahlreichen Menschen, die in den Jahren der politischen Gewalt aus anderen Regionen Kolumbiens nach Bogotá geflohen sind und sich durch Landbesetzungen eine neue Heimat erobert haben. Tintal hat mir für diese Hoffnungen die Augen geöffnet, ein Besuch in diesem Stadtviertel, wo man aus einer Abfallbeseitigungsanlage eine lichte und moderne Bibliothek gemacht hat. Die Rampe, auf der früher die Mülllaster ins Gebäude fuhren, um ihre Ladung in einen dunklen Schacht zu kippen, hat sich in eine Brücke zu Literatur und Bildung verwandelt. Heute bevölkern die Leute der Umgebung, die sich früher Bücher, Zeitschriften und den Zugang zum Internet kaum leisten konnten, täglich die Lesesäle.

Es ist in den südlichen Vierteln der Stadt, wo Zukunft festgeschrieben wird, oft ohne das Eingreifen von  Städteplanern und Umweltschützern. Dabei füllen sich die leeren Seiten des Buchs mit rasch dahingeworfenen Zeilen, ohne dass man die Zeit fände, sich zu fragen, wer ihre Autoren sind, woher sie kommen und wie ihre Sicht der Zukunft ist.

 

“In den Süden fahren wir nicht”, sagten die meisten Taxifahrer, “zu gefährlich. Und schon gar nicht, wenn es dunkel wird.”

Mir fällt unversehens ein, wie mich einmal, als ich im Taxi zu einer Verabredung unterwegs war, ein erschöpfter, ein seitwärts hingeworfener Blick aus einem jener überfüllten Kleinbusse traf, wie sie in den Süden unterwegs sind. Es war eine Frau, etwa in meinem Alter, ihre Bluse leuchtete sehr weiß zu mir herüber, doch man sah ihr an, wie sie versuchte, die Enge zu ertragen und mit großer Anstrengung Haltung zu bewahren. Ich selbst teilte mir das Taxi nur mit dem freundlich plaudernden Fahrer. Es schmeckte plötzlich schal, dieses Privileg.

An der nächsten roten Ampel erschien aus dem Nichts ein verhärmtes Gesicht am Seitenfenster und bot mir gestenreich Lotterielose an. Ein paar Sekunden verstrichen, ich zögerte zu lang, um nach Münzen zu kramen und die Scheibe herunterzulassen. Die Ampel schaltete auf Grün und wir fuhren weiter. Ich sagte mir, dass mein Kleingeld doch auch nichts geändert hätte und schämte mich sofort für den Gedanken. Währenddessen schob sich der klapprige Kleinbus immer noch neben uns durch den Feierabendverkehr. Die Frau in der weißen Bluse hatte sich abgewandt und starrte geradeaus, während im Mittelgang des Busses ein hagerer Junge Musik machte, eine kleine Trommel im Arm, den Kopf zurückgeworfen, den Mund aufgerissen zu einem für mich unhörbaren Gesang, verschluckt vom Motorenlärm.

*

Es ist spät geworden. Ich muss mich endgültig losreißen von diesem Blick über die Stadt und ihrem sepiafarbenen Himmel, wo die Wolken vorwärtsdrängen wie die Busse dort unten auf der Avenida 13. Ich weiß, sie sind auch heute voller abendlicher Heimkehrer. Kleine Angestellte, Straßenhändler mit ihren Bauchläden, Studenten der öffentlichen Universitäten und Dienstmädchen, für die jetzt innerhalb eines Wimpernschlags das Tageslicht verlöscht. Nur für mich hier oben ist er noch sichtbar, jener schwache Widerschein am Horizont.

Es läutet an der Tür und ich mache auf. Ein Hotelpage in blauer Uniform ist mit seinem glänzenden Wägelchen gekommen, um mir mit den Koffern zu helfen. Als alles aufgeladen ist, weist er mich sehr höflich auf das Buch auf der Fensterbank hin und fragt, ob ich es denn nicht mitnehmen wolle.

„Nein“, sage ich mit einigem Bedauern und werfe einen letzten Blick Richtung Fenster, wo sich hinter den Bürotürmen das Lichtermeer Bogotás bis zum Horizont erstreckt, „Das ist ein Libro al viento, wissen Sie.“

Er nickt und lächelt. Die Beflissenheit ist aus seinem Gesicht gewichen und hat etwas anderem Platz gemacht. Ja, er weiß Bescheid. In seinem Blick liegt etwas Tröstliches.

Womöglich wird er ja der nächste Leser sein. Irgendwann, in naher Zukunft, wird er das Buch zurücklassen, an einem anderen Ort der Stadt. Wo ein Unbekannter es findet, wo vielleicht Sie es finden werden, wer weiß.

Anke Laufer, Bogotá, im August 2011

26. NachbildBogotá (J.C.)

 

Im tiefen Grund der Bücher   

foto:a.l., 2011

Zahlreiche Zettel und Anschläge pflastern die Fassade des Eckhauses in der Tübinger Hafengasse. Bei Heck gibt es Bücher, auch Drucke und Gemälde. Füllfederhalter und Briefe vom einen oder anderen toten Dichter. Abgesehen davon russische Ikonen, das Siegel eines römischen Kaisers, 800 Flaschen alten Weines, zwei Dutzend Taschenuhren, einen runden Esstisch aus Mahagoni, englisch, um 1880, das passende massivsilberne Teegeschirr, einen Teil eines ägyptischen Sarkophags, ein Gebetbuch in Ringform, einen russischen Samowar, altperuanische Keramiken und eine Krawatte aus Zuchtperlen.

Drinnen irrt der Blick im Dämmerlicht zunächst verloren über die Vielzahl von Regalen und Vitrinen mit wurmstichigem Rahmen, in denen Bücher aus allen Epochen, in allen Größen und Formen warten: Ehrwürdige, dicke Tanten mit Lederrücken, schmale Elfchen mit Goldschnitt und zerfranste Straßenköter im Taschenbuchformat. Wenn man genau hinhört, kann man schon jetzt ihre Stimmen hören: lyrisches Gewisper, aufdringliches Geplapper, gepolterte Propaganda, gemessene  Vorträge. Es riecht nach Staub und altem Papier. An Balken, Leisten und Regalbrettern sind vergilbte Zettelchen angenagelt, die vage auf ein komplexes Ordnungssystem hindeuten, etwas, was wohl allein Heck eine Übersicht zu verschaffen vermag. Auf mich  wirken sie wie Fußnoten, an den Seitenrand des Ladens gekritzelte Formeln, Bannsprüche in verlaufener Tinte.

Hinter einer niedrigen Vitrine sitzt sehr aufrecht Thomas Leon Heck, reckt den Hals aus dem Kragen seines Hemdes und hält die Hände im Schoß gefaltet. Heck ist von einer großgewachsenen, blonden Magerkeit. Unter der hohen Stirn und dicht über den Augen büscheln Brauen, die von hellen Stellen durchsetzt sind. Sie setzen Glanzlichter, die nicht in, sondern über seinem Blick liegen und irritierend auf das Gegenüber wirken.

Einst der jüngste Auktionator Deutschlands ist er heute zu einer der buntscheckigsten Persönlichkeiten Tübingens geworden: Verleger, Antiquar, Antiquitätenhändler, Versteigerer, Sachverständiger und begnadete Spürnase in Sachen Buch und Kunst.

Nach Sichtung seiner Homepage frage ich mich: Wo hört der echte Heck auf und wo beginnt die Selbsterfindung? Und was tut Heck eigentlich, wenn er in seinem Laden ganz allein ist? Wenn die Kunden in den Kellern verschwinden? Zwirbelt er ein wenig an seinen Augenbrauen? Betrachtet er sich in einem halbblinden Handspiegel, den er unter dem Gerümpel hervorzieht? Nimmt er einen alten Siegelring aus der Vitrine, behaucht und poliert ihn und steckt ihn sich dann an, um die Wirkung mit ausgestrecktem Arm zu beurteilen?

Wie soll ich das wissen? Ich gehöre nicht zu den Leuten, die mit Heck lange Gespräche führen. Für gewöhnlich wechsle ich ein paar magere Worte mit ihm, um dann vor der niedrigen Kammer mit den Kinderbüchern (in der Erwachsene sich nur gebückt bewegen können) eine scharfe Kehrtwende zu vollziehen und die Treppe hinunter in den Gewölben zu verschwinden.

Wahrscheinlich, so denke ich dann, liest er einfach nur, während er allein ist, liest und liest und frisst sich so langsam und beharrlich durch die eigenen Bestände – durch ein Antiquariat, das mit seinen Kammern, Windungen, Gängen und seiner unsicheren Ordnung dem menschlichen Gehirn gleicht.

Auf dem ersten Treppenabsatz verzweigt sich der Weg: rechts ein Regal mit noch unsortierten Neuzugängen, geradeaus drohen die schwergewichtigen Enzyklopädien. Links gelangt man ins Labyrinth der Kunstgeschichte, der Griechen und Römer und der Klassiker. Dies ist die Zwischenwelt. Es ist schon dämmriger und feuchter als oben, aber noch dringt schales Licht durch die Fenster.

Hinabsteigend wird der Modergeruch intensiver. Merkwürdiges geschieht. Wie konnte ich zum Beispiel die steinerne Treppe einfach übersehen, die hier inmitten des Gewölbes steil nach oben führt und an einer zugemauerten Tür endet? Plötzlich war sie da, beim zehnten oder zwölften Besuch und mit ihr die Versammlung von Figurinen und Büsten aus Bronze, Marmor und Porzellan, die sich auf den Stufen  zusammengefunden hat, überragt von einer fahl glänzenden, überlebensgroßen Schleiereule aus Steingut, die von der höchsten Treppenstufe auf mich herunterstarrt.

Hier unten begegne ich nur selten einem anderen menschlichen Wesen.  Hecks Hilfskräfte sind manchmal da, diese Jungen mit den schmalen Gesichtern, den Staubflocken im Haar und der ungesunden Gesichtsfarbe der Kellerbewohner. Sie sitzen wie Spinnen in einer der überfüllten Kellernischen und schaben die Schimmelpilze von den Buchrücken. Oder sie laufen mit Bücherstapeln hin und her und räumen sie von einem Regal ins andere, auf der Suche nach irgendeiner Ordnung, die Heck ihnen vorgibt. Aber meistens ist man hier unten allein.

Nässe tropft von der Decke. Heck hat notdürftig Plastikplanen gespannt und das Wasser rinnt in den Faltenwurf, läuft darin entlang, kippt über den Rand und tropft hinter den Regalen an den Wänden herunter, hinter Wissenschaft, Musiknoten, Reiseliteratur und Esoterik. Die Feuchtigkeit tränkt den Boden, steigt durch die Holzfasern der Regale wieder auf und bringt am Ende den Schimmel zum Erblühen, graue, weiße und blassblaue Rosetten auf vergilbtem Papier.

Erst hier wird deutlich, wie sehr es für die Bücher eine Frage des Überlebens ist, im Erdgeschoss, nahe bei Heck zu stehen, wo es trocken ist, wo sie gemütlich verstaut auf einen neuen Besitzer warten können. Es ist, als beobachteten sie dich sehnsüchtig mit der Hoffnung auf eine überraschende, glückliche Wendung. Du könntest sie retten. Du bist vielleicht ihre letzte Gelegenheit.

Ab und zu ziehe ich einen der dicksten Bände hervor, um einen Blick auf das zu erhaschen, von dem ich annehme, dass es sich hier versteckt. Kellerwesen, fast ausgestorbene Geschöpfe der Tiefe, die mit Saugnäpfen an den amphibischen Zehen in den Nischen kleben und sich träge am Hintern kratzen.  Ich stelle sie mir vor, wie sie Stücke aus den Büchern herausbeißen, wie sie sich an abgefallenen Buchstaben, Eselsohren und hier und da einem Stäubchen Goldschnitt nähren. Dann, beim leisesten Geräusch, kurz bevor einer der Hilfskräfte oder ein Kunde die Treppe heruntersteigt, reißen sie erschrocken die Lemurenaugen auf und verschwinden in den Mauerritzen, aufgesogen von der Dunkelheit.

Tief unten, im letzten und kleinsten der Keller, dort wo auch Hecks staubige Weinflaschen lagern, sind die Gewölbe über einen Geheimgang mit einem Tunnelsystem verbunden. Dieses Labyrinth reicht bis hoch hinauf ins Tübinger Schloss. Einst flüchteten die Stadtbewohner durch diese Gänge, wenn marodierende Banden oder feindliche Heere über sie hereinbrachen.

Ein Fluchtweg also, die Möglichkeit des Entkommens aus der Brutalität oder vielleicht auch der Ödnis der Welt. Ich frage mich plötzlich, ob man sie nicht zwingend braucht, solche von Laufkäfern und Kellerasseln besetzten Orte bei deren Betreten sich einem die Nackenhärchen aufstellen und an denen alles möglich scheint?

Aber was soll soll einer tun, der irgendwo in einer Zweizimmerwohnung im fünften Stock eines Wohnblocks haust, zwischen glatten, weißen Wänden, wo es nicht einmal eine Abstellkammer gibt, keinen Unterschlupf für Träume und Ängste? Was soll einer machen, dessen Leben aufgeklärt und voraussehbar ist? Er kommt hierher zu Heck, in das Kaleidoskop Antiquariat, wo Splitter aus Sprache, Gedanken und Bildern sich zu komplizierten Strukturen zusammenfügen und wieder  verschieben.

Wenn ich hier unten stehe, dann bin ich mir beinahe sicher: Es ist kein Zufall, dass Heck eine große Sammlung der Schriften Emanuel Swedenborgs im Bestand hat. Das besondere Interesse des großen Theologen und Forschers galt dem Jenseitigen und der Welt der Geistwesen; Kant nannte ihn deshalb verächtlich den Geisterseher. Im 19.Jahrhundert trafen sich seine Anhänger, um spiritistische Sitzungen abzuhalten. Ich sehe sie vor mir, wie sie sich an Hecks rundem Esstisch aus Mahagoni versammeln und sich aus Hecks silberner Teekanne ein Tässchen Earl Grey eingeschenken, um sich dann an den Händen zu fassen und den Geist Wielands oder Hölderlins zu beschwören.

Wieland ist ohnehin nicht weit. Er hat einst in diesem Haus gewohnt und vielleicht ist er ja auch einmal in die Keller hinab gestiegen. Heck hat ihm oben einen behaglichen Winkel reserviert: Einen Sitzplatz vor einem sorgsam polierten Sekretär, darauf ein aufgeschlagenes Buch und ein Füllfederhalter.

Es sind Menschen wie Thomas Leon Heck, die ihre Keller mit Wundern und Fülle verstopfen und dadurch das Gerümpel aus Zeit und Worten lebendig werden lassen, so dass du sie sehen kannst, all die Schreiberlinge, all die Schwätzer, all die schwermütigen Grübler  und schwelgerischen Dichter,  wie sie in den Ecken hocken und nach dir greifen.

Das hier beschriebene Antiquariat gibt es so nicht mehr. Wohl aber Thomas Leon Heck, der seine Wunderkammer nach Dusslingen verlegt hat (von dort stammen die auf dieser Seite gezeigten Fotos) . Wer neugierig geworden ist auf ihn und die von ihm gesammelten Schätze findet weitere Informationen und eine Wegbeschreibung unter:

http://www.thomasleonheck.de