Der Verlag Juno Editions hat in diesem Jahr eine Anthologie in englischer und deutscher Sprache herausgegeben, in der sich literarische Stimmen aus ganz Europa vereinen. „Connected Europe“ ist der Titel der Short Story Collection, in der mein Text „Emma und Eve“ nun zum zweiten Mal erscheint, der 2021 eine Auszeichnung der Akademie für das gesprochene Wort und des deutschen PEN-Zentrums erhalten hatte. In „Emma und Eve“ geht es um die Begegnung zwischen einer jungen und einer sehr viel älteren Frau, die sich während eines Lockdowns über zwei benachbarte Balkone hinweg anfreunden. Es geht um innere und äußere Grenzen, um Sehnsucht in Zeiten der Pandemie, um Vorurteile, um Liebe, um Erinnerungen, um Verluste und um neuen Mut.
Am Morgen fällt mein Blick als Erstes auf den sonnenbeschienenen Fleck neben dem Bett, wo das gebrauchte Kondom liegt, zusammengerollt wie ein zertretenes Weichtier.
Ich stehe auf, schlüpfe in den alten Bademantel und zurre den Gürtel fest, nehme das Ding mit spitzen Fingern hoch und trage es hinaus auf den Balkon, wo ich es in die Restmülltonne fallen lasse.
Sie sollten vorsichtig sein, sagt eine Stimme ganz in der Nähe.
Ich schnappe nach Luft. Es ist meine Nachbarin. Der Kater sitzt diesmal zu ihren Füßen und schickt mir einen abschätzigen Blick.
Ich kann schon auf mich aufpassen. Aber danke, sage ich.
Meine mit dem Godesberger Literaturpreis ausgezeichnete Short Story „Klauber und die Füchsin“ wurde zuerst 2020 in der britischen Literaturzeitschrift Tigershark veröffentlicht – und seither mehrere Male. Die Erzählung über einen verschrobenen alten Mann, der einer jungen Frau Unterschlupf gewährt, die sich auf der Flucht vor den Schergen eines autoritären Regimes befindet, scheint derzeit verständlicherweise einen Nerv zu treffen. Im vergangenen Monat erschien die Story noch einmal in der Anthologie „Drahtseilakt“ sowie im Almanach „hier war ich, dort bin ich“ in der Reihe „Literaturblätter der Deutschen aus Russland“.
„Sie wurden beobachtet. Sie haben ihr aufgelauert und sie ins Haus gelockt“, sagt der Ältere.
„Ich habe sie hereingebeten.“
„Warum?“
„Warum? Sie brauchte eine Freistatt. Ganz offensichtlich.“
„Was?“
„Einen Unterschlupf“, sage ich.
„Warum sagen Sie das dann nicht?“
„Freistatt ist das treffendere Wort“, sage ich und fasse ihn fest ins Auge.
Mit Worten machen es die Leute heutzutage wie mit Wölfen. Taucht eines auf, das sie nicht mögen, wird nach ihm geschossen.
