Fort – von der Notwendigkeit aufzubrechen

Es ist Anfang August 2022. Die Welt dort draußen ächzt unter der nächsten Hitzewelle – einem Zeichen, das inzwischen jeder lesen kann, wie der Ich-Erzähler in meiner Short Story „Der silberne Falter“ wie nebenbei bemerkt. Die Pandemie scheint – zumindest für den Moment – in den Hintergrund unseres Alltags gerückt zu sein und wir freuen uns wieder auf das Reisen, so sehr es auch durch Staus, Lieferengpässe und abgesagte Flüge erschwert wird. Fort, bloß fort zieht es uns. Das Unterwegssein erscheint zugleich als Flucht und Belohnung. Wir werfen einen Blick über die Schulter zurück – und sehen zweieinhalb schwierige Jahre, welche die Welt verändert haben. Auf einmal ist uns bewusst, was wir verlieren könnten – und ziehen Bilanz über das, was wir bereits verloren haben. Die Erkenntnis, der wir uns womöglich verweigern, lautet: Stillstand ist keine Option. Schriftsteller*innen neigen vielleicht dazu, ihre Abenteuer im Kopf stattfinden zu lassen, Drahtseilakte auf die Fiktion zu beschränken – doch Aufbruch und Wagnis sind eine Notwendigkeit im Leben, selbst für Schriftsteller*innen mittleren Alters.

Die zwölf großen Gefühle

Es gibt einiges aufzuholen, was den Inhalt dieser Website angeht. Zum Beispiel wäre zu berichten gewesen, wie die virtuelle Preisverleihung im Literaturhaus Zürich am 4. Februar dieses Jahres verlief – eine logistische Meisterleistung, bei der alle zwölf Preisträger des Wettbewerbs „Die großen Zwölf“ (präsent auf einer riesigen Leinwand, von Zoom-Kacheln lächelnd) ihre Texte lasen und interviewt wurden – während kurioserweise das Publikum selbst live im Literaturhaus dabei sein durfte. Mit den „Großen Zwölf“ waren übrigens nicht die ausgezeichneten Autor*innen gemeint, sondern zwölf große Emotionen, welche die monatliche Themenstellung bestimmten: „Hoffnung“ war das Thema im Januar – dem Monat, in dem mein Text „Das Zeichen“ die Ausschreibung gewann – ein hoffnungsfroher Start ins literarische Jahr also.

Zuflucht

Ein paar Wochen erlebte ich den Aufwand, den die Organisation und die Aufzeichnung eines großen Online-Events bedeuten, dann auch aus der Sicht der Macher*innen mit. Seit der letzten Ausgabe der Literaturzeitschrift neolith (beheimatet an der Bergischen Universität Wuppertal) bin ich – Dank virtueller Meetings – Teil des Redaktionsteams. Am 27.Februar zeichneten wir unsere Online-Releaselesung mit allen an der aktuellen Ausgabe – neolith#6 zum Thema „Zuflucht“ – beteiligten Autor*innen auf, die ihr hier findet: https://www.youtube.com/watch?v=hirCZahD6uY.

Am 7. Mai gab es dann auch nochmal eine Live-Veranstaltung zum Erscheinen von neolith#6, organisiert vom Literaturhaus Wuppertal – bei dem die Macher*innen der Literaturzeitschriften neolith, Karussell und KLiteratur aufeinandertrafen und miteinander über ihre Arbeit ins Gespräch kamen.

Hoffnung. Trauer.

Die Ausgabe von neolith stand dieses Mal im Zeichen des Themas „Zuflucht“. Sie gewann in diesem Frühjahr mit dem russischen Überfall auf die Ukraine an unerwarteter Aktualität. Auch als ich im März mein kleines Gedicht „Paket“ für die Spendenanthologie #Antikriegslyrik des Berliner Trabantenverlags verfasste (nein, ich bin keine Lyrikerin, aber es war für einen guten Zweck) ahnte ich nicht, dass es mir im August noch einmal begegnen würde – nämlich im Rahmen einer Handreichung des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Gestaltung von Gottesdiensten zu Volkstrauertag.

Das literarische Vermächtnis eines russischen Studenten

Eine besondere Freude war es für mich, den diesjährigen Daniil Pashkoff Prize in der Sparte Prosa (over 19, obviously ;)) zu gewinnen.

In einer anderen Sprache zu schreiben, ist ein Aufbruch und ein Wildern im fremden Territorium. Da kann und muss vieles schiefgehen. Das Spiel mit Übersetzung und Bedeutung öffnet aber auch ungeahnte Möglichkeiten, besonders für die Schreibenden selbst. Die Frage und Ahnung, mit welcher (authentischen) Stimme man in einer anderen Sprache schreiben könnte, ist für Autor*innen wohl eine der spannendsten überhaupt.

Der Daniil Pashkoff Prize for Creative Writing in English by a Non-Native Speaker wird alle zwei Jahre für Texte in englischer Sprache verliehen, die von Nichtmuttersprachler*innen verfasst wurden. Benannt ist der Preis nach Daniil Pashkoff, dem ersten russischen Anglistikstudenten an der TU Braunschweig. Er brachte aus seiner Heimatstadt Novosibirsk eine ansteckende Leidenschaft für die englische Sprache und Literatur mit. Daniil verstarb unerwartet im Juli 1998 im Alter von nur 27 Jahren und hinterließ einen großen Freundeskreis, der um sein einzigartiges Talent trauerte. Aufgrund dessen entstand die Idee, einen Preis für kreatives Schreiben in englischer Sprache unter Nichtmuttersprachler*innen auszuloben.

Die festliche Verleihung der Preise fand in diesem Jahr am 11. Juni im alten Rathaus in Braunschweig statt.

Auf der Insel

Auch bei den sogenannten Bieler Gesprächen, die in diesem Jahr vom 2. bis 3. Juli wieder live und vor Ort im Schweizerischen Literaturinstitut in Biel stattfanden, ging es vor allem um Literatur, Sprache und Übersetzung – in diesem Falle zwischen Italienisch, Französisch und Deutsch. Ich war bei den Bieler Gesprächen mit einem Auszug aus meiner Story „Die Insel“ zu Gast, die in einem Forum von Autor*innen, Sprachwissenschaftler*innen und Übersetzer*innen diskutiert wurde – für mich eine unglaubliche Erfahrung. Einer solchen Runde entgeht keine Schwäche des Textes – während ein Lob aus ihrer Mitte eine köstliche Labsal für die (mehr oder minder) stets zweifelnde Schriftsteller*innenseele darstellt.

Vielleicht entdeckst du sie deshalb, die Insel. Dieses von allem abgeschnittene Territorium, herausgesäbelt aus den Gefilden tief unter dir, inmitten der mehrspurigen Schleifen, der sichelförmigen Zu- und Abfahrten, jenseits eines Bahndamms, diesseits eines Stausees, in südöstlicher Richtung verjüngt zu einer Zunge, die sich unter die Brücke schiebt. Eine Insel, ganz eindeutig: Ausmaße, Morphologie, Baumbestand, Zeit- und Erdschichten, halb versunkene Festungswälle von Großbaustellen, denen kleinere Eingriffe folgten, wieder vernarbten, während sich der Verlauf der Fahrbahnen um neue Grate und Verwerfungen erweiterte. Doch im Zentrum überlebte die Insel, ein Eiland von beachtlicher Größe im Meer der menschengemachten Ödnis – schattig, einsam, üppig. Wild.“

„Die Insel“ erscheint demnächst in englischer Übersetzung im vierteljährlich erscheinenden Journal
Trafika Europe der Penn State University, New York.

Umbruch. Aufbruch.

Für mich ist es eine seltsame Zeit, dieser Sommer 2022. Umbrüche liegen hinter mir – unter anderem zwei Covid-Erkrankungen, die ohne vollen Impfschutz wohl weit weniger glimpflich verlaufen wären. Es ist eine Zeit des Innehaltens, kurz vor dem Aufbruch.

Den größten Teil des Herbstes werde ich für einen Schreib- und Rechercheaufenthalt in den englischen Grafschaften Devon und Somerset nutzen – gesplittet zwischen einem Cottage an der Südküste, einer sogenannten Sheperd Hut im Herzen der Blackdown Hills und dem Artist Retreat Awakenings at Wick.

Arbeiten werde ich am Abschluss eines Projekts mit dem Arbeitstitel „Phantomgrenzen“, einer Art surrealem Roadmovie im Europa der Zukunft, in dem sich Geschichten um unterschiedliche Figuren verzweigen und neu verflechten.

Zudem werden Illustrationen und Texte für ein gemeinsames Projekt mit dem englischen Lyriker Matt Bryden entstehen – ein Aufbruch in die lange vernachlässigten Gefilde von Zeichenstift und Farbe, noch ein Wagnis also – das Risiko einer Blamage inbegriffen.

Doch was gibt es dabei denn wirklich zu verlieren – außer der Hoffnung?